Wenn du es eilig hast, gehe langsam

Lothar J. Seiwert definiert Zeitmanagement auch für kreative Chaoten

Mach' langsam und genieße dein Leben!So etwas stand auch mal in meinem Poesiealbum - mit dem entmutigendem Zusatz: »sonst ist es zu spät«. Oder wie der Autor Lothar J. Seiwert zu Beginn des Buches den Schriftsteller Jorge Luis Borges zitiert:»Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen,ich würde nicht so perfekt sein wollen,ich würde mich mehr entspannen.Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin,ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.Ich würde nicht so gesund leben.Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,Sonnenuntergänge betrachten, mehr Bergsteigen,mehr in Flüssen schwimmen. [...]«

So sehr ich diesen bedauernden Rückblick nachvollziehen kann: so eine Freiheit ist doch gar nicht denkbar.Meine Generation hat Angst: vor unerklärbaren (weil nicht produktiv der Fortbildung gewidmeten) Lücken im Lebenslauf, vor falschen Entscheidungen, vor schlechten Leistungen. Wir müssen stets erreichbar sein, pünktlich die Rechnungen bezahlen, soziale Kontakte pflegen, diszipliniert sein und verantwortungsbewusst handeln, und mit einem ständig und überall herrschenden Konkurrenzkampf umgehen können. Die Globalisierung bewirkt, dass wir nicht mehr nur regional oder bundesweit miteinander konkurrieren, sondern mit Menschen der ganzen Welt.

Es gibt Menschen, die dieses stressgeprägte Umfeld anspornt, die in diesem Umfeld sogar kreativ sind. Ich gehöre nicht dazu. Lothar J. Seiwert beruhigt mich: er betont, dass es normal ist, wenn ich mit dieser Art von Druck nicht klar komme. Dass Menschen von unterschiedlichen Motivationen angetrieben werden, dass ihre Gehirne verschiedene Dominanzen aufweisen, dass sie ihre Zeit monochron oder polychron einteilen. Um diese Thesen zu beweisen beginnt das Buch mit viel Neurologie, was ich gut finde: wissenschaftliche Erklärungen sind irgendwie beruhigend, und sie erklären, wieso die klassische Methode des Zeitmanagements samt die To-Do-Liste für mich einfach nicht funktioniert.

Es geht nun darum zu ermitteln, welcher Zeitmanagement- oder Selbstmanagement-Typ der Leser ist. Angesprochen fühlen dürfen sich vor allem alle, die nicht in das klassische Zeitmanagement-Raster passen. In kurzen, einfachen und unterhaltsamen Kapiteln lernen wir, wie wir nicht nur effektiver und produktiver werden, sondern wie wir zugleich auch unser Leben genießen und nicht nur den beruflichen Bereich optimieren, sondern gleichzeitig auch unsere privaten Beziehungen, unser Lebensziel und unser Lernbedürfnis zu gleichen Teilen unter einen Hut bekommen. Was also wollen wir vom Leben? Wo wollen wir in 20, 40, 60 Jahren sein? Der erste Schritt ist, sich dieses Ziel bewusst zu machen. Auf beinahe jeder Seite wird der Leser zum Formulieren seines Lebensplans aufgefordert: das ist viel Schreibarbeit und erfordert die Geduld und Muße, sich ausführlich mit sich selbst und seinen Vorstellungen zu befassen. Schritt für Schritt führt Seiwert nun zur Erfüllung des individuellen Lebensziels, indem sich auch der tendenziell chaotische Mensch Tages- Wochen- Monats- und Jahresziele setzen kann, ohne sich mit einer chronisch unerledigten To-Do-Liste selbst zu strafen oder das Schöne am Leben gerade jetzt zu verpassen.

Seiwerts Buch ist bereits vor zehn Jahren erschienen - dies ist eine »limitierte Jubiläumsausgabe« mit golden glänzenden Umschlag. Trotz der mittlerweile verstrichenen Zeit hat das Buch nicht an Aktualität eingebüßt: wie Seiwert von der immer hektischer werdenden Zeit berichtet, von E-Mails und Handys, die den Alltagsrhythmus bestimmen und immer schnellere Reaktion erfordern - daran hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: unser Handy ist mittlerweile in der Lage, unseren Tag so straff wie nur möglich zu planen: schnellste Route, Terminkalender mit Erinnerungsfunktion, ständige Bereitschaft. Da bleibt kein Platz für kreative Chaoten. Oder?Schön, dass Lothar Seiwert in diesem Buch einen Weg weist, der das Gegenteil verspricht.

Wenn du es eilig hast, gehe langsam
Veröffentlicht:

Gemacht mit

corazon

von Lene Saile